
Alles vernünftige Investieren ist Value-Investing
Vom heutigen Wert zukünftiger Cashflows über die Sicherheitsmarge bis hin zum Burggraben - Eine kurze Reise durch die wichtigsten Konzepte des Investierens.
Spekulation versus Investition
Sie müssen sich darüber im Klaren sein, ob Ihr natürliches Nervenkostüm aufs Investieren oder auf die Spekulation ausgelegt ist. Diese beiden komplett unterschiedlichen Aktivitäten werden oft verwechselt. Die Ergebnisse sind fatal.
Der Spekulant ist fleissig und gewieft: Er hängt am Marktgeschehen und spürt dessen Emotionen regelrecht. Er versucht, Preisbewegungen in naher Zukunft korrekt vorherzusagen. Sein einziges Ziel ist es, nach dem Kauf teurer weiterzuverkaufen. Der eigentliche Wert spielt dabei keine Rolle.
Für den Investor hingegen ist der Wert entscheidend. Je weniger dafür bezahlt werden muss, desto attraktiver die Investition. Etwas, das in der Zukunft keine Erträge abwirft, ist somit keine Investition.
Die Essenz
Aesop hat um 600 v. Chr. die Essenz des Investierens festgehalten: «Ein Vogel in der Hand ist gleich viel Wert wie zwei im Gebüsch». Im Jahr 2000 rollte Warren Buffett das Gleichnis auf und fügte vier Variablen hinzu: Wie viele Vögel befinden sich im Unterholz? Wie lange brauchen Sie, um diese zu fangen? Wie sicher sind Sie sich? Und wie steht es um die nächstbeste Staude?

Zwei Zedernwachsvögel in einem Maulbeerbaum illustrieren die über zweieinhalbtausend Jahre alte Fabel des griechischen Dichters Aesop.
Jede einzelne Investition kann mit diesen Fragen zerpflückt werden – egal ob es sich um Maschinen, Anleihen, Immobilien, Ölfelder oder Lotto-Tickets handelt: Wie viel kostet es (der Vogel in der Hand, der getauscht werden kann)? Wie hoch ist die Summe aller in Zukunft produzierten Cashflows (Anzahl Vögel im Dickicht)? Wann fliessen diese Erträge zu Ihnen zurück (wann fangen Sie die Vögel)? Wie sicher sind Sie sich (dass sie alle Vögel in die Hand bekommen)? Und was sind Ihre Opportunitätskosten (wie gut ist der nächstbeste Strauch)?
Das ist es. Mehr brauchen Sie im Prinzip über das Investieren nicht zu wissen.
Der heutige Wert aller zukünftigen Cashflows
Wie berechnet man den Wert einer potenziellen Investition? Es ist die Lieblingsaufgabe der wichtigtuenden Business Schools: Mathematisch verkompliziert, aus dem Kontext gerissen und für den Dozenten einfach zu korrigieren.
Im Grunde genommen ist es simpel: Sie errechnen den heutigen Wert eines jeden in Zukunft erwarteten Cashflows, indem Sie ihn durch Ihre Opportunitätskosten dividieren, und kumulieren diese zu einem einzigen Wert. Nehmen wir eine Anleihe mit €100 Nennwert, zwei Jahren Laufzeit und einem jährlichen Coupon von 3%. Beträgt die Summe aus dem Leitzins und der Rendite Ihrer nächstbesten Investition 10%, zinsen Sie mit dieser Zahl ab:

Der heutige Wert aller zukünftigen Cashflows.
Weist die besagte Anleihe im ersten Jahr eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 20% auf (Totalausfall; und läuft andernfalls sicher bis zum Ende), dann reduziert sich die erwartete Rendite auf €66.07 (0.8 * €82.59).
In diesem Fall müsste man überhaupt nicht rechnen, da die erwartete Rendite kleiner ist als die Opportunitätskosten. Sogar wenn Sie heute €33 aus dem Fenster werfen und den Rest zu Ihren Opportunitätskosten anlegen, würde es Ihnen besser gehen.
Im Vergleich zu Anleihen wissen Sie bei Aktien nicht, wann Sie welchen Cashflow erhalten. Am besten treffen Sie mehrere, wahrscheinlichkeitsgewichtete Annahmen. Ihr Resultat wird immer falsch sein. Es gibt Ihnen aber eine grobe Idee davon, was ein Asset Ihrer Meinung nach wert ist.
Ein weiterer spannender Ansatz ist es, diese Dynamik umzudrehen. Die aktuellen Konsensschätzungen und der Marktpreis erlauben es Ihnen, die vom Markt eingepreisten Erwartungen zu errechnen.
Es ist essenziell, für den immensen Grad an Unwissenheit durch eine adäquate Sicherheitsmarge zu kompensieren. Je tiefer der Preis unter Ihrem persönlich errechneten Wert liegt, desto weniger kann schiefgehen. Sollte dann wider Erwarten doch alles rund laufen, verwandelt sich Ihre Sicherheitsmarge in eine Zusatzrendite.
Die Quelle des falschen Preises ist irrelevant
Sie haben eine Fehlbewertung des Marktes festgestellt. Woher diese rührt ist zwar wichtig zu verstehen, aber unter dem Strich egal. So zeugt die Schubladisierung in verschiedene Investment-Stile lediglich von der Unwissenheit des Kommentators. Wir möchten Ihnen prägnant die entscheidenden Ursachen einer Fehlbewertung darlegen. Deren Effekte werden massiv unterschätzt.
«Cigar Butts»
Der klassische Value-Ansatz von Benjamin Graham. Das Net net Working Capital eines Unternehmens liegt möglichst nahe und idealerweise unter der Marktkapitalisierung. Es sind die typischen hässlichen Entlein, die keiner haben möchte und deshalb viel zu billig sind. Miserable Firmen können so ein sehr gutes und sicheres Investment darstellen – vorausgesetzt man besitzt einen ganzen Korb davon und ist bereit, ein bis drei Jahre zu warten.
Ein Startpunkt für ein Portfolio spottbilliger Unternehmen könnten Malibu Boats und Stellantis darstellen – auch wenn die beiden etwas teurer als klassische «Net net»-Aktien sind, sind sie auch deutlich appetitlicher als ein matschiger Zigarrenstummel. Benjamin Graham hat seine Kriterien regelmässig überarbeitet. Joel Greenblatts «Magic Formula» dürfte das kontemporäre Pendant sein.

Ein Zigarrenstummel: Ekelhaft. Keiner möchte ihn haben. Aber mit einem letzten Zug drin, der gratis und franko gepafft werden kann.
Umsatzwachstum
Die klassische «Growth»-Strategie: Umsatzwachstum ist der häufigste und effektivste Treiber des freien Cashflows. Letzterer ist für unsere Bewertung entscheidend und reflektiert, was operativ wirklich verdient wird.
Dieser Ansatz funktioniert, da niemand die Wachstumsraten über Dekaden hinweg greifen kann. Sollte man es doch versuchen, wird die Bewertung so schwindelerregend hoch, dass jeder halbwegs vernünftige Investor das Weite sucht. Drei Beispiele aus der Vergangenheit:
Cisco handelte während der Dot-Com-Blase zum Einhundertfachen des Gewinns. Das Unternehmen war und ist zwar gut, aber auch nicht so gut. Es folgte eine spektakuläre Underperformance. Zeitgleich waren Investoren bereit, $290 Mio. für das stark defizitäre pets.com zu bezahlen und wurde bereits im November 2000 liquidiert. Es waren doch keine Vögel im Gebüsch. Umgekehrt hätten Sie im Jahr 1971 ein KGV von etwa 210(!) für L’Oréal bezahlen können und den S&P 500 Index trotzdem links liegen gelassen.
Im Extrem wird diese Anlagestrategie von der Private-Equity-Kategorie «Venture Capital» verfolgt: Ein diversifiziertes Portfolio mit vielversprechenden Start-Ups. Lediglich ein bis zwei Unternehmen sind üblicherweise für die gesamte Fondsperformance verantwortlich.

”Trees don’t grow to the sky”. Das Sprichwort trifft verblüffend oft zu, es gibt aber ganz wenige Ausnahmen. Eine junge Dame bestaunt im kalifornischen Sequoia National Park den General Sherman Tree (den voluminösesten Baum der Welt).
«Operating Leverage»
Dieser Sachverhalt ist vergleichsweise komplex und daher oft missverstanden. Im Grunde genommen geht es darum, dass sich die Margen mit der Zeit verbessern. Immense Kostendisziplin und Economies of Scale sind die verbreitesten Quelle hiervon: Die Entwicklungskosten Ihrer Software oder Medikaments verändern sich kaum, wenn Sie mehr davon verkaufen. Skaleneffekte können auch auf der Nachfrageseite auftreten: Je mehr Nutzer ein soziales Netzwerk hat, umso wertvoller wird es für die Mitglieder. Otis Worldwide ist ein hervorragendes Beispiel für operating Leverage. Durch die Digitalisierung werden die Wartungskosten reduziert. Gleichzeitig wird der Umsatz steigen, da durch die Abkapselung der Systeme die Aufzugwartung kaum mehr von Dritten durchgeführt werden kann.
Effiziente Märkte und Burggräben
Die Hypothese der effizienten Märkte lautet, dass alle oben genannten Beispiele heute exakt gepreist seien und es dadurch unmöglich wird, irgendeine Outperformance zu erwirtschaften. In ihrer eigenen Verteidigung behaupten die Jünger allen Ernstes, dass es kurzfristige Ausreisser geben könne – die selbstverständlich alle einer Normalverteilung unterliegen und mittelfristig eine sogenannte «Regression zum Mittelwert» stattfände. Berkshire Hathaway wäre demnach eine «neun-Sigma-Ausnahme». Das heisst übersetzt so viel wie: Kommt statistisch einmal in der Geschichte des Universums vor. Wie wir in unserem White Paper zum Start von alphaNovum aufgeführt haben, ist Berkshire Hathaway aber bei Weitem nicht der einzige Ausreisser in 150 Jahren Finanzgeschichte. Vielleicht sollte sich Academia intensiver mit Karl Popper und dessen Essays zum Thema Falsifikation auseinandersetzen.
Das Konzept zur Rückkehr zum Mittelwert besagt, dass Überflieger und Underperformer über einen längeren Zeitraum wieder zum Durchschnitt zurückkehren. Bei den Underperformern sind es genau diese auf Bankrott gepreisten hässlichen Entlein, die Value Investoren so gerne aufheben. Somit stimmt es auf dieser Seite. Unter den Überfliegern gibt es allerdings zu viele Ausnahmen, als dass das Konzept eine weitläufige Gültigkeit hätte. Beispiele? Costco, Hermès und Philip Morris kommen in den Sinn. Alle haben einen weiten Burggraben, der ständig verbreitert und mit Krokodilen befüllt wird. Costco verkauft nur Grosspackungen und hält seine eigenen Kosten so tief wie es nur geht. Je günstiger die Ware, umso mehr wird verkauft. Je mehr verkauft wird, desto tiefere Preise kann Costco weitergeben. Costco lebt einzig und allein von der Mitgliedsgebühr. Wenn Sie ein Geschäft eröffnen, werden Sie Costco preislich einfach nicht unterbieten können. Hermès hat eine einzigartig starke Marke mit entsprechender Preissetzungsmacht. Philip Morris operiert in einem Segment, wo die Kundeloyalität enorm hoch ist und Sie als Konkurrent nicht einmal Werbung schalten dürfen. Dass Sie diese Burgen (genauer gesagt Prachtschlösser) nicht kapern werden, dürfte genauso auf der Hand liegen wie die Tatsache, dass lediglich die Cashflows der nächsten zehn bis zwanzig Jahre im aktuellen Kurs eingepreist sind.

Die befestigte Abtei in der französischen Gemeinde Le Mont-Saint-Michel macht sich die Gezeiten elegant zunutze, was im wohl weitesten Burggraben der Welt resultiert.
Fazit
Sehen Sie ein Investment immer von der Perspektive, dass Sie heute einen Vogel in der Hand aufgeben, um innerhalb eines vernünftigen Zeitraums zwei oder mehr zu erhalten. Rechnen Sie konservativ und handeln Sie nie ohne Sicherheitsmarge. Niemand zwingt Sie dazu. Und suchen Sie bei langfristigen Investments stets nach weiten Burggräben – in Anlehnung an Le-Mont-Saint-Michel, auch an ungewöhnlichen Stellen.